Neue Wege mit altem Ballast
2006 - meine erste Tochter kam zur Welt. Selbst frisch von der Ausbildung als Pflegefachfrau DN2 weg, die ich auf einer Wochenbettabteilung abschliessen konnte, war mein Kopf voll mit Theorie darüber, wie man Eltern eines Babys ist. Es war gut, dass ich in diesem Abschluss-Praktikum über bedürfnisorientierten Umgang mit Babys lernte und viel Wissen übers Stillen und ein bisschen was übers Tragen mitbekam.
Denn nach der Geburt meines Kindes kollidierte all das Wissen mit dem, wie ich selbst aufwuchs. Meine Kindheit war nicht einfach wohlbehütet gewesen. Nein, sie fand sozusagen in einem abgeschiedenen Universum einer Sekte oder stark abgekapselten religiös-konservativen Gemeinschaft statt. Kinder hatten zu funktionieren und ein gut erzogenes Kind war eins, das man mit einem Blick kontrollieren konnte. Dass das kein liebevoller Blick war, dürfte klar sein. Und was dazu nötig ist, bis ein Kind nur dank einem Blick tut was es soll, ebenfalls.
Nun kommt also dieses Menschenkind zur Welt, berührt mein Herz wie nichts jemals zuvor, erweckt meine tiefsten Beschützergefühle und lässt über Nacht ein wahrhaft kampfbereites Löwenherz in mir wachsen... Und dieses mir anvertraute Menschlein soll ich nun kontrollieren lernen? Ab Geburt womöglich? Durch Stillrhythmen, Tagesabläufe und Schreienlassen nachts? Das zumindest war, was von mir innerhalb dieser Gemeinschaft, aus der mein gesamter Freundes- und Bekanntenkreis bestand, erwartet wurde.
Ich habe es versucht. Denn Prägung ist stark und Bindungen und Familie haben unglaublich viel Einfluss. Nicht lange, aber ich habe es probiert. Und mein Herz schrie mit jedem Schrei meiner kleinen Tochter mit. Wisst Ihr, noch heute kann ich diesen Text nicht verfassen, ohne dass mir Tränen über die Wangen laufen. Es gibt nichts, was ich so sehr bereue wie diese Versuche, meinen Umgang mit meinem ältesten Kind dieser Sekte anzupassen. Und ich frage mich bis heute: was muss in der Seele eines Menschen geschehen sein, dass er das Schreienlassen eines hilflosen Säuglings für richtig und wichtig erachtet...? Ich fühlte nach kürzester Zeit: NEIN. Das war falsch und schlimm und zerstörte mein Kind. Es machte dieses fröhlich gurrende, glucksende, strahlende Menschlein mit seinem Grübchen in der Wange zu einem ängstlichen, jammerigen und klammernden Mädchen. Angst war in seinen Augen zu lesen, sobald ich es in sein Bettchen legte. Und ich schwor mir und meinem Kind: Das ist vorbei. Denn es ist falsch.
Die deutliche Reaktion meiner kleinen Tochter gab mir den Mut, meinen neuen Weg zu finden. Einen Weg, der die Bindung zwischen Eltern und Kinder ins Zentrum stellt und der auf die Bedürfnisse aller Beteiligten Wert legt. Der die Hilflosigkeit kleiner Menschenkinder nicht ausnützt, sondern sie zum Grund dafür macht, ihnen mit besonders viel Sensibilität zu begegnen.
Tragen aus Leidenschaft
Noch nie hatte ich tiefe, starke und stabile Bindung erlebt. Also hatte ich kein Modell dafür, wie ich es bei meinen Kindern anstellen sollte, das aufzubauen. Aber ich packte jede Möglichkeit dafür. Und etwas, was mich am meisten faszinierte, war das Tragen. Die Möglichkeit, meinen Alltag einigermassen zu bewältigen und gleichzeitig das Bedürfnis meiner Kinder nach Nähe zu stillen, war für mich unglaublich bereichernd. Bald suchte ich nach einer Tragehilfe, die sowohl dem breitschultrigen Papa meiner Kinder als auch mir mit meiner schmalen Statur passte. 2006 gab es sehr wenige Tragen auf dem Markt, und da mir als Pflegefachfrau klar war, wie genau ein Kind in einer Trage sitzen sollte um eine gesunde Haltung zu haben, kam keine davon für mich in Frage. Ungefähr 2008 kamen die ersten ergonomischen Tragen auf den Markt, aber das Staturenproblem war immer noch nicht gelöst. Zudem waren diese Tragen kaum über die gesamte Tragezeit passend. Und so begann ich zu tüfteln.
Unerwartete Antwort
Dieses Staturproblem ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Eines schönen Sonntags 2009 sass ich in einer Kirche und hörte NICHT zu. Mein Kopf war vollends damit beschäftigt, eine Lösung zu finden für das Problem, dass es keine Trage gab, deren Träger sich automatisch allen Schultern anpasst. Während ich mit meiner Vorstellungskraft versuchte, eine solche Konstrutkion zu basteln, erinnerte ich mich daran, wo ich gerade war. In meinem Kopf gab ich die Frage "nach oben": Du weisst bestimmt, wie man einen Trägerwinkel flexibel macht? Und noch während ich dabei war, die Frage im Kopf zu formulieren, durchzuckte mich die Idee wie ein Blitz: Ringe. Du musst diese Träger an Ringen befestigen, das gibt ihnen die nötige Flexibilität, um sich jeder Statur und Schulterform anzupassen.
Das war die Geburtsstunde des LueMai. Und der Rest ist Geschichte.
Der Rest der Geschichte
Nein so leicht ist es nun doch nicht und wenn ich über alle Stationen schreiben würde, die dann kamen, würde ein Buch daraus. Vielleicht mach ich das irgendwann. Die folgenden Jahre waren für mich wundervoll. Ich baute mit diesem LueMai eine Firma auf, stellte ein Team zusammen, das ich liebte, meine eigene kleine heile Welt mit einem lichtdurchfluteten Atelier im Nebenhaus. Mit unglaublich viel Elan stürtze ich mich ins Projekt Tragebaby und genoss jeden Schritt davon. Tragebaby war mein grosses Abenteuer und meine Familie.
Leider blieb es nicht dabei. Es war nicht nur Corona, nicht nur dass der Tragehilfenmarkt überschwemmt wurde mit natürlich viel günstigeren Tragen die zudem viel günstiger hergestellt wurden als meine swiss-handmade-Unikate. Das alleine hätte vermutlich nicht gereicht dafür, dass ich aus wirtschaftlichen Gründen mein Team ganz auflösen und meine schönen Atelier-Räume aufgeben musste.
Über all die Jahre trug ich meine schwierige Vergangenheit mit mir und mir war nicht klar, wie sehr sie meine Gegenwart beeinflusste. Nach ein paar buchstäblich herzzerbrechenden Erlebnissen landete ich in einer Depression, die mir jegliche Kreativität nahm. Ich erkannte mich nicht wieder, verlor mich selbst zu grossen Teilen. Dieser Zustand endete erst nach einer Trennung 2021, die noch nicht fertig ausgestanden ist.
Aber falls dieser letzte Abschnitt ein wenig trostlos klingen mag... das ist er nicht. "Back to the Roots" ist das, was mir die Möglichkeit gab, wieder oder vielleicht zum ersten Mal richtig bei mir anzukommen. Die Stunden alleine an der Nähmaschine sind unglaublich heilsam. Kreativität war schon immer Balsam für meine Seele gewesen. Ich geniesse und schätze jeden Kontakt mit Kunden heute ganz neu und anders, bin stolz auf jedes fertige Stück, das ich machen konnte und liebe meine Arbeit von ganzem Herzen. Tragebaby ist heute anders. Und so traurig ich darüber bin, dass es kein Team mehr um mich herum gibt, so dankbar bin ich dafür, dass ich wieder zu mir finden durfte.
Denn das habe ich inzwischen gelernt: Das Leben funktiniert von innen nach aussen, nicht umgekehrt. Ich kann auf Dauer nicht da draussen eine glückliche und gesunde Welt aufbauen wenn meine innere Welt nicht heil ist. Und Gesundung im Innen ist heute meine oberste Priorität. Wohin mich und mein Tragebaby das führen wird, das wird die Zukunft zeigen.